Manuela Weichelt, Nationalrätin

 

Das Klimaurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom April 2024 gegen die Schweiz führte im Ständerat und im Nationalrat zu einer Diskussion und einer Erklärung. Der Schaden für den National- und Ständerat ist angerichtet.

 

Der EMGR hat das Verbandsbeschwerderecht im Bereich des Klimaschutzes unter strikten Voraussetzungen als möglich anerkannt. Dies, weil vulnerable Personen – wie die Klimaseniorinnen als Verein – aufgrund der besonderen Natur vom Klimaschutz individuell betroffen sind und sonst kaum zu erreichen sind. Hingegen wurde den Klimaseniorinnen als einzelne Personen die Beschwerdeberechtigung abgesprochen. Das Gericht hat das Recht auf ein gesundes Klima als ein Menschenrecht anerkannt (Art. 2 und Art. 8 EMRK). Maximal 1,5 Grad Erwärmung gilt als international anerkanntes Ziel (Pariser Abkommen). Die Staaten müssen im Bereich des Klimaschutzes ihren Schutzpflichten nachkommen. Das Gericht hält fest, dass die Schweiz ihren Schutzpflichten teilweise nicht nachgekommen ist und dass die Ziele ungenügend sind.

 

Erklärung der Räte

Die Eidgenössischen Räte haben in der Sommersession eine Erklärung verabschiedet, dass die Schweiz keinen Anlass sehe, dem Urteil des Gerichtshofs vom 9. April 2024 weitere Folge zu geben, da durch die bisherigen und laufenden klimapolitischen Bestrebungen der Schweiz die menschenrechtlichen Anforderungen des Urteils erfüllt seien. Der Nationalratspräsident sagte einleitend zur Debatte, dass Erklärungen in den Parlamenten bei wichtigen Ereignissen oder Problemen der Aussen- oder Innenpolitik abgegeben werden. Die Eidgenössischen Räte haben aber bei früheren Urteilen des EGMR, als es um die Asbestthematik, um die Witwenrente oder auch um das Namensrecht ging, keine Erklärungen abgegeben. Auch bei den Kriegsausbrüchen gab es keine Erklärung.

Ein Appell aus dem Munde von gewählten nationalen Politiker*innen, einem Gerichtsurteil keine Folge zu geben, ist ein unwürdiges Signal. Wenn jede verurteilte Person oder jede unterlegene Partei die Möglichkeit hätte, auf die Nichtbefolgung eines Entscheides zu appellieren, was würden wir dann machen?

Alte Frauen sind eine Provokation

Sowohl der Ständerat als auch der Nationalrat haben die Contenance verloren und unseren Institutionen geschadet. Es ging um eine Stimmungsmache, um eine populistische Diskussion. Was hat die Gemüter so bewegt? Dass «alte» Frauen die Frechheit hatten, in Strassburg gegen die Schweiz zu klagen? Dass die Richter*innen des EMGR den Frauen Recht gaben, dass sie sich für die Gesundheit wehren dürfen? Die Klimaseniorinnen folgten der Debatte im Nationalrat, wie es schien, in stoischer Ruhe. Das muss für einzelne Herren eine Provokation gewesen sein und sie hätten sie lieber von der Tribüne gewiesen.

Wie kommt eine Mehrheit des Rates dazu, trotz gegenteiliger klimawissenschaftlicher Grundlagen in der Erklärung zu schreiben, dass die menschenrechtlichen Anforderungen des Urteils durch die bisherigen und laufenden klimapolitischen Bestrebungen der Schweiz erfüllt seien? Eine inhaltliche klimapolitische Lüge! Es gab Sprechende, die gesagt haben, dass die Klimaziele längst erfüllt seien. Dem ist nicht so! Zwar hat die Schweiz die Ziele demokratisch gesetzt, doch die Massnahmen, die dazu ergriffen wurden, werden die Ziele nicht erreichen.

Aussensicht

Die Geschäftsleiterin von Amnesty International liess sich zitieren, dass sich die «chambre de réflexion» mutwillig zur «chambre de provocation» gemacht habe. Genauso treffend ist die Kritik des Professors für Staatsrecht und ehemaligen FDP-Ständerats, René Rhinow, der mit seiner Aussage auch seine eigenen Parteikolleg*innen kritisiert, indem er sich zitieren lässt: «Die Erklärung des Ständerates ist rechtsstaatlich problematisch, aussenpolitisch dumm und steht inhaltlich auf wackeligen Beinen.»