Redaktion DAS BULLETIN 

 

Die gezielte Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland stellt eine der gravierendsten Menschenrechtsverletzungen im aktuellen Krieg dar. Es ist nicht nur eine humanitäre Katastrophe, sondern auch ein strategischer Angriff auf die Zukunft der Ukraine. Die hier dargelegten Erkenntnisse basieren auf der Berichterstattung internationaler Experten während des diesjährigen World Economic Forum im House of Ukraine. 

 

Wie aus den Gesprächen mit den Expertinnen und Experten hervorgeht, handelt es sich um eine gut durchdachte, koordinierte und systematische Verschleppung ukrainischer Kinder, die unter dem Vorwand von Evakuierungen oder Ferienlagern nach Russland gebracht werden. Zunächst werden die Kinder von ihren Familien getrennt und oft in weit entfernte Regionen Russlands gebracht. Viele Eltern werden getötet oder zur Herausgabe ihrer Kinder gezwungen. Sobald sie in den Einrichtungen untergebracht sind, beginnt die zweite Phase der Identitätsauslöschung. Die Kinder erhalten neue Namen, eine neue Staatsangehörigkeit und werden unter starker russischer Indoktrination gehalten. Jeglicher Kontakt zur Ukraine wird ihnen verwehrt, ihre Muttersprache dürfen sie nicht sprechen, und sie werden gezwungen, sich als Russen zu identifizieren. Die dritte Phase ist die Militarisierung. Jugendliche werden in paramilitärischen Strukturen wie der «Jungen Armee» ausgebildet und gezielt auf einen künftigen Einsatz im russischen Militär vorbereitet. Die Junge Armee umfasst rund 1,75 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 18 Jahren. Die Experten während des Panels haben wiederholt darauf verwiesen, dass insbesondere eine wachsende Zahl ukrainischer Kinder in den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine verwickelt wird und zunehmend von Russland an die Front entsendet wird. Ja: Kinder. Diese Entwicklung wirft düstere Schatten auf die Wahrung grundlegender Menschenrechte und die Unversehrtheit der kindlichen Existenz.

Gestohlene Kindheit 
Die Verschleppung ukrainischer Kinder ist keine neue Strategie. Bereits im zaristischen Russland existierten sogenannte Kantonsschulen, in denen Kinder nationaler Minderheiten von klein auf russifiziert und militärisch geprägt wurden. Diese Praktiken wurden im Sowjetregime fortgesetzt und erleben unter Putin eine Renaissance. Die Parallelen sind frappierend, und die Konsequenzen für die Ukraine sind erschütternd. Ein Kind, das von seiner Familie, seiner Kultur und seiner Heimat entwurzelt wird, beginnt zwangsläufig, sich seiner neuen Umgebung anzupassen. Im schlimmsten Fall wachsen diese Kinder als loyale Soldaten Russlands heran und werden als Instrumente gegen ihr eigenes Volk eingesetzt. 

 

Verbrechen ohne Konsequenzen? 

Nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) stellt die Deportation von Kindern ein Kriegsverbrechen und in bestimmten Fällen einen Akt des Völkermords dar. Bereits 2023 erliess der IStGH Haftbefehle gegen Wladimir Putin und Maria Lwowa-Belowa, die Kinderrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten, wegen der Verschleppung ukrainischer Kinder. Dennoch bleibt die Rückholung der Kinder eine immense Herausforderung. Bislang konnten nur wenige Hundert zurückgebracht werden, circa 598, während die Dunkelziffer der Entführungen auf weit über 19000 geschätzt wird. Laut Berichten der «Save Ukraine Foundation» wird der Zugang zu diesen Kindern bewusst erschwert, und ihre genaue Lokalisierung bleibt oft unklar. 

 

Pflicht zum Handeln 

Die Dringlichkeit internationaler Massnahmen wurde betont. Es wurde daran appelliert, dass eine zentrale Datenbank zur Erfassung der deportierten Kinder dringendst eingerichtet werden muss, um ihre Identität und ihren Verbleib zu dokumentieren.  

Die internationale Gemeinschaft sollte politischen Druck auf Russland ausüben, insbesondere durch Staaten, die nicht zur westlichen Allianz gehören und von Moskau noch als Verbündete betrachtet werden. Wirtschaftliche und diplomatische Sanktionen gegen die Verantwortlichen sollten verschärft werden, während neutrale Vermittler darauf hinarbeiten sollten, sichere Fluchtkorridore für die Kinder zu schaffen.

Die geraubte Generation 
Die gezielte Verschleppung ukrainischer Kinder ist eine humanitäre Tragödie ein kalkulierter Angriff auf die nationale Identität der Ukraine. Während der Krieg andauert, schwinden die Chancen, dass die betroffenen Kinder gerettet werden können. Wenn die Weltgemeinschaft nicht entschlossen handelt, droht eine ganze Generation in die ideologische Maschinerie eines Aggressors integriert zu werden. Dies zu verhindern, ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern eine historische Notwendigkeit. Die Ukraine kann sich keine verlorene Generation leisten, denn Kinder sind nicht nur das emotionale, sondern auch das demografische Rückgrat jeder Gesellschaft. Die Zerschlagung von Familien und die gewaltsame Umerziehung hinterlassen tiefe Spuren, die sich über Jahrzehnte in die kollektive Identität eines Volkes einbrennen. 

 

Kinder zurückholen, jetzt! 
Es ist daher unabdingbar, dass die internationale Gemeinschaft mit Nachdruck alle diplomatischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Hebel in Bewegung setzt, um Russland zur Rückgabe der verschleppten Kinder zu zwingen. Dies erfordert eine unerschütterliche Entschlossenheit, die sich nicht in Erklärungen erschöpft, sondern durch konkrete Handlungen manifestiert. Nur so kann verhindert werden, dass diese Kinder dem Kreislauf der Instrumentalisierung durch eine feindliche Macht anheimfallen. Der Kampf der Ukraine zeigt, dass sie nicht nur für ihre territoriale Integrität kämpft, sondern auch um das Recht ihrer Kinder auf eine Zukunft in Freiheit und Sicherheit. Dies ist ein Kampf, der weit über die gegenwärtigen Frontlinien hinausreicht und die Frage nach der moralischen Verantwortung der Weltgemeinschaft aufwirft. Preis des Nichthandelns 
In der anschliessenden Fragerunde während des Panels meldete sich ein ukrainischer Soldat zu Wort und gab ein nachdenklich stimmendes Statement ab: «Einst standen sich Tschetschenen und Russen als erbitterte Feinde gegenüber, nun kämpfen sie vereint in der Ukraine gegen uns. Wer glaubt, dieser Krieg sei fern, verkennt die Realität. Wenn Europa jetzt nicht handelt, könnte der Tag kommen, an dem der ukrainische Soldat nicht nur seine Heimat verteidigt, sondern auch gezwungen ist, an euren Grenzen zu stehen.»