Antonia Martina Durisch, Redaktion BULLETIN

Die Einführung der globalen Mindeststeuer von 15 Prozent durch die OECD wurde als Meilenstein hin zu mehr steuerlicher Gerechtigkeit verkauft. Doch statt den internationalen Steuerwettbewerb zu zähmen, hat sie paradoxerweise neue Dynamiken entfesselt. Insbesondere kantonale Steuerstrategien, exemplarisch im Kanton Zug, führen zu einer Subventionsspirale zugunsten multinationaler Konzerne. Während der Bund sich zu Sparmassnahmen gezwungen sieht, fliessen Millionen in steueroptimierte Unternehmensstandorte. Ein Gespräch mit dem Zuger Kantonsrat Luzian Franzini über die strukturellen Ungleichgewichte eines Systems, das zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät.

 

BULLETIN: Luzian, die OECD-Mindeststeuer sollte für mehr Steuergerechtigkeit sorgen. Hat sie ihr Ziel verfehlt?

L.F.: Sie hatte dieses Ziel nie wirklich. Die Mindeststeuer war vor allem ein Projekt der wirtschaftsstarken Industrieländer, der USA, Deutschlands, der G7. Der globale Süden wurde weitgehend ausgeschlossen. In diesen Ländern liegt die effektive Unternehmensbesteuerung meist ohnehin bei 20 bis 25 Prozent. Eine Mindeststeuer von 15 Prozent ändert für sie wenig – sie verfestigt eher die bestehenden Ungleichgewichte. Die Schweiz bleibt weiterhin attraktiv für Konzerne, die Steuerarbitrage betreiben wollen.

 

BULLETIN: Welche Rolle spielt die Schweiz dabei?

L.F.: Die Schweiz ist eine der bedeutendsten Steueroasen weltweit. Studien schätzen, dass jährlich bis zu 100 Milliarden Franken dem globalen Süden entzogen werden: Mittel, die dort für Infrastruktur, Bildung oder eine eigenständige Wirtschaftspolitik dringend gebraucht würden. Wenn du das ins Verhältnis zu unserem Entwicklungshilfebudget von rund 3 Milliarden Franken setzt, wirkt das fast zynisch. Wie Jean Ziegler treffend sagte: «Wir müssen diesen Ländern nicht mehr geben – wir müssen ihnen weniger nehmen.»

 

BULLETIN: Im Kanton Zug erlebst du die Auswirkungen hautnah. Wie reagiert die Politik?

L.F.: Wir von den Grünen sind da die Rufer in der Wüste. Seit unserer Gründung thematisieren wir diese Missstände konsequent – als praktisch einzige politische Kraft. Die Mehrheit ignoriert das bewusst. Gerade weil im Kantonsrat einige Wirtschaftsanwälte sitzen, die direkt aus jenen Kreisen stammen, kennen sie die Mechanismen sehr genau und wissen, wie lukrativ das System für gewisse Akteure ist. Es herrscht ein Schweigekartell, genährt von finanziellen Interessen.

 

BULLETIN: Zug plant nun ein Subventionspaket von 150 Millionen Franken. Was beunruhigt Dich daran?

L.F.: Der Steuerwettbewerb hat sich gewandelt, von Steuersenkungen hin zu einem aggressiven Subventionswettlauf. Nur Kantone mit enormen Reserven können da mithalten. Sozial ist das fatal: Wir haben heute schon rund 47 000 Pendler täglich, das ist ein Missverhältnis zur Wohnbevölkerung. Noch mehr wirtschaftliche Attraktivität bedeutet steigende Mieten, noch mehr Druck auf den Wohnraum, eine schleichende Verdrängung der einheimischen Bevölkerung. Zug droht, sich in ein zweites Monaco zu verwandeln, ein Ort der Reichen, nicht der Verwurzelten.

 

BULLETIN: Du sprichst auch von einem demokratischen Defizit…

L.F.: Absolut. Der Regierungsrat erhält mit diesem Subventionsinstrument faktisch einen Blankoscheck. 150 Millionen jährlich können verteilt werden, ohne parlamentarische Kontrolle. Das ist ein demokratisches Unding. Als wir forderten, im Zweckartikel festzuhalten, wofür diese Subventionen gedacht sind, wurde uns von der Finanzdirektion mitgeteilt: Das könne zu juristischen Problemen mit der OECD führen. Wenn du in einem Gesetz nicht mal mehr den Zweck formulieren darfst, bewegst du dich in einer rechtlichen Grauzone.

 

BULLETIN: Wie kam es zu diesem Paket?

L.F.: In der Realität wurde es gemeinsam mit den Konzernen entworfen, die davon profitieren. Man brüstete sich sogar damit, direkt mit grossen Firmen wie Johnson & Johnson oder Rohstoffkonzernen verhandelt zu haben. Formell können sich zwar alle Unternehmen bewerben, aber de facto werden rund 400 multinationale Konzerne den Grossteil der Mittel erhalten, jene nämlich, die von der OECD-Mindeststeuer betroffen sind.

 

BULLETIN: Die Regierung spricht von drei Säulen: Bildung, Kinderbetreuung, Wohnen…

L.F.: Das ist reine Imagepflege. Die drei Gesetzestexte werden künstlich zusammengeführt, obwohl sie inhaltlich nichts miteinander zu tun haben. Das Blockchain-Institut (40 Millionen) haben wir unterstützt, weil Investitionen in Bildung grundsätzlich zu begrüssen sind. Das Kinderbetreuungsgesetz basiert auf einer alten Motion und hat keinen Bezug zur OECD. Und im Wohnbereich? Vage Absichtserklärungen, ein paar Millionen, irgendwann. Tatsächlich sind 150 Millionen von 200 Millionen ganz klar Subventionen zur Abfederung der Mindeststeuer.

 

BULLETIN: Was wäre deine Alternative?

L.F.: Für uns Grüne ist klar: Weniger ist oft mehr. Es geht darum, eine hohe Lebensqualität für alle zu gewährleisten, nicht um maximale Standortattraktivität für globale Konzerne. Wir sollten den Kanton Zug so weiterentwickeln, dass er für Mittelstandsfamilien, lokale KMUs und Bildungseinrichtungen ein gutes Umfeld bietet. Wir verfügen über eine traumhafte Landschaft, innovative Unternehmen, ein exzellentes Bildungsangebot. Darauf sollten wir bauen, nicht auf Steuertricks.

 

BULLETIN: Und auf internationaler Ebene?

L.F.: Die Schweiz riskiert, auf eine graue Liste der OECD zu geraten, das wäre ein erheblicher Reputationsverlust. Wir betreiben Steuerpolitik am Rande der Legalität, lavieren geschickt zwischen Paragrafen. Wenn du ein Gesetz nicht einmal mehr rechtssicher begründen kannst, zeigt das, wie instabil die Grundlage ist, auf der du dich bewegst.

 

BULLETIN: Dein Fazit?

L.F.: Wir müssen uns grundlegend fragen: Wohin soll sich unser Kanton entwickeln? Wollen wir jeden Quadratmeter zubauen, um noch mehr Unternehmen und Wohlhabende anzulocken? Oder setzen wir auf soziale Durchmischung, auf nachhaltige Entwicklung und eine echte Lebensqualität? Wir haben kein Arbeitsplatzproblem, wir haben ein Infrastrukturproblem: verstopfte Strassen, überfüllte Züge, steigende Mieten. Ich plädiere für eine wirtschaftspolitische Kehrtwende: Unser Standort sollte sich bewusst abkühlen, damit sich Lebensqualität entfalten kann, für alle, die in Zug leben. Und damit auch andere Regionen faire Chancen auf Entwicklung erhalten.