Natalie Chiodi, Vorstandsmitglied Network Anthropia

 

Im BULLETIN 3/2023 wurde zuletzt über den Alltag von geflüchteten Menschen in Griechenland geschrieben, seit 2016 berichtete das BULLETIN regelmässig über die Situation in Griechenland. Die Lage damals und in den folgenden Jahren hat zur Gründung des kleinen Hilfswerks Network Anthropia geführt. Es leistet Nothilfe und Entwicklungszusammenarbeit.

 

Als ich zuletzt im Herbst 2023 von der Situation von geflüchteten Menschen aus Griechenland berichtete, schilderte ich, wie veränderlich die Situation im Zusammenhang mit der Arbeit mit geflüchteten Menschen ist. Denn geflüchtete Menschen sind leider auch Spielball der Politik. Meine letzte Reise nach Griechenland war drei Jahre her. Es war an der Zeit, mir wieder eigene Eindrücke zu verschaffen. Die Fahrt mit dem Zug nach Brindisi in Italien und mit der Fähre nach Igoumenitsa nutzte ich, um das Buch «Die Insel» von Franziska Grillmeier zu lesen (siehe unten).

 

Umgang mit Geflüchteten

Meine erste Destination war Ioánnina im Norden von Griechenland. In der Region befinden sich mehrere staatliche Camps, sogenannte Closed Controlled Access-Centres (CCAC). Der Name ist Programm, samt Widersprüchlichkeit. Es gibt einen kontrollierten Zugang, den man nur mit dem entsprechenden Ausweis (Asylum Seeker) passieren kann. Ansonsten sind die Camps von Zäunen und Stacheldraht und die meisten neuerdings auch von Mauern umgeben. Leider wird nichts dagegen getan, dass man sofort das Gefühl erhält, dass es sich um ein Gefängnis handle. Das Gefühl wird bestärkt durch die Lage der meisten Camps. Sie liegen in abgelegenen Gebieten, fernab der Zivilisation und ohne öffentlichen Verkehr in Reichweite. Ich hatte die Gelegenheit bei mehreren Camps vorbeizuschauen, die Camps und die Umgebung beelendeten mich sehr. Unvorstellbar, wie es wäre, wenn man selbst hier leben müsste.

2016 war ich in Idomeni, wo sich damals ein Flüchtlingscamp mit zeitweise mehr als 10000 Menschen befand. Anfangs 2016 war die Balkanroute geschlossen worden, und am Bahnhof Idomeni, am nördlichsten Bahnhof Griechenlands, stauten sich die Menschen. Seither ist mir bewusst, dass ein Lager ohne Schutz ein Problem darstellt. Damals konnte man davon lesen, dass Menschenhändler ein einfaches Spiel hatten. Man hörte beispielsweise davon, dass Kinder entführt wurden.

Aber muss Kontrolle heissen, dass der Eingang wie ein Gefängnis aussehen muss? Dass beim Eintritt Fingerabdrücke genommen werden? Dass es Körper- und Gepäckkontrollen gibt? Dass das Verlassen des Camps reguliert ist? etc.

 

Gemeinschaftszentrum

In Ioánnina betreibt die Organisation BAAS (be aware and share) aus Basel ein Gemeinschaftszentrum für geflüchtete und bedürftige Personen. Es bietet geflüchteten Menschen und der einheimischen Bevölkerung Platz für Austausch und ist so ein Ort, wo Grundbedürfnisse erfüllt werden können. Es bietet verschiedene Dienstleistungen an wie Sprachkurse, einen kostenlosen Kleiderladen, sanitäre Anlagen, Waschmaschinen und Trockner, Wifi, Nähmaschinen, eine täglich frisch zubereitete Mahlzeit und – wenn es personell möglich ist – soziale und kreative Aktivitäten. Die Menschen, die es besuchen, kommen mehrheitlich aus den nahe gelegenen Flüchtlingscamps. Für viele ist der Kleidershop der Höhepunkt, er wird rege benutzt und hat eine grosse Anziehungskraft. Die Menschen kommen aus umliegenden (staatlichen) Camps, die bis 60 Kilometer entfernt liegen! Eine Fahrt vom entferntesten Camp in dieser Region kostet allein schon 10 Euro.  

Ich hatte mich darum beworben, bei BAAS für eine gewisse Zeit mitzuarbeiten. Die Freiwilligen und Angestellten von BAAS koordinieren, unterstützen und arbeiten im Turnus in allen Bereichen des Centers. Einmal pro Woche trifft man sich, um das ganze Center gründlich zu reinigen und das Wochenprogramm zu besprechen. Ideen und Wünsche sind willkommen, die Leitung ist professionell. In mehreren Gesprächen wurden wir Freiwilligen in unsere Arbeit eingeführt und z.B. der Umgang mit Nähe und Distanz diskutiert. Das Team besteht aus vornehmlich jungen Menschen aus dem französischen und englischen Sprachraum. Es ist wunderbar, dass es einen solchen Ort gibt, wo sich Freiwillige in den Dienst der bedürftigen Menschen stellen.

Gelegentlich wollten die Menschen ihre im Kleidershop erworbenen Kleider abändern. Dazu bot sich im Kreativatelier die Möglichkeit. Ich schätzte diese Arbeit sehr, denn beim gemeinsamen Tun kamen wir oft auf Umwegen ins Gespräch – so gut das geht, wenn man die andere Sprache nicht beherrscht.

Warum, fragt man sich nun vielleicht, braucht es solche Orte? Man könnte meinen, dass die geflüchteten Menschen in den Camps versorgt werden. In der Tat sind die Camps notdürftig ausgerüstet. Es fehlt an allem. An Toiletten und sanitären Anlagen, an Waschmaschinen und Rückzugsräumen, an adäquater Lebensmittelversorgung bezüglich Menge und Qualität, an medizinischer Versorgung und weiteren Notwendigkeiten wie z.B. Kleidung und an Möglichkeiten des Austausches. Weiter fehlt es an Weiterbildungsmöglichkeiten und an Schulangeboten etc.

Im Jahr 2023 wurde das Gemeinschaftszentrum von BAAS von 2153 neu registrierten Menschen besucht. In jenen Wochen, als ich bei BAAS mitarbeiten durfte, besuchten an Spitzentagen bis zu 140 Menschen das Gemeinschaftszentrum. Diese Tage waren auch für uns Freiwillige streng, und in der Küche mussten die Teller fortlaufend abgewaschen werden, damit es für alle einen Teller gab.

 

Weitermachen

Nach einigen Wochen reiste ich weiter zum Hilfswerk Network Anthropia, um mich mit der Verantwortlichen vor Ort zu treffen. Dieses Hilfswerk ist in Lavrio, südlich von Athen, stationiert. Im BULLETIN 3/2023 schilderte ich, wie sich die Situation rund um Lavrio verändert hat. Bestehende Wohngemeinschaften von Geflüchteten (in Räumlichkeiten der Gemeinde und in temporären Bauten auf Gemeindegebiet) wurden vom griechischen Staat aufgelöst und die Menschen in staatlichen Camps untergebracht. Diese Entwicklung war absehbar und angekündigt. Deshalb hat Network Anthropia in den vergangenen Monaten Alleinstehende und Familien, die ein kleines Erwerbseinkommen haben, dabei unterstützt, eine Wohnung in Lavrio zu suchen. Mittlerweilen sind die meisten geflüchteten Menschen, die noch in Lavrio sind, solche, die eine Aufenthaltsbewilligung haben, sich niedergelassen und selbständig gemacht haben. Für solche Menschen finden weiterhin Sprachkurse für Erwachsene und Unterstützungsunterricht für Kinder in den Räumlichkeiten von Network Anthropia statt. Wir haben das grosse Glück, dass wir auf engagierte, mehrheitlich ehrenamtliche Sprach- und Fachpersonen zurückgreifen dürfen.

Daneben hält Network Anthropia eine Lebensmittelversorgungstour für Menschengruppen aufrecht, die uns bekannt sind und die einen erschwerten Zugang zu Lebensmitteln haben. Das kann sein, wenn sie durch die Maschen der Versorgung fallen oder trotz Arbeit und Unterkunft zu wenig Geld für Lebensmittel haben, wenn sie sich wegen Krankheit oder einem behinderten Kind nicht versorgen können. Solche Fälle gibt es mehr als man glaubt. Ich denke da z.B. an die alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, eines davon mit Tetraplegie. Dieser Fall beschäftigt Network Anthropia schon lange. Diese Frau kann ihre Kinder nur versorgen, weil sie Lebensmittelspenden erhält. Einer Arbeit wird sie nie nachgehen können, weil sie ihr behindertes Kind versorgen muss. Schon nur das Anstehen für die Mahlzeiten ist ein Problem für sie.

 

Netzwerken

Unsere Reise führte auch nach Patras. Über Umwege erhielten wir einen Kontakt von einer Frau, die die Ärmsten der Armen unterstützt – Griech*innen und Migrant*innen. Und weil im Namen unseres Hilfswerks «Netzwerk» steht, wollten wir diesen Kontakt unbedingt herstellen. Maria und ihr Team gründeten eine Lebensmittelbank auf dem Peloponnes. Eine Lebensmittelbank ist ein Ort, der gespendete Lebensmittel sicher lagert, um sie an weitere Organisationen oder direkt an Bedürftige zu verteilen. Sie sammeln und vermitteln auch Mobilitätshilfen und -geräte für ältere und behinderte Menschen, für Menschen ohne Krankenversicherung, für Patientinnen und Patienten, für Flüchtlinge sowie für örtliche Pflegeheime, Krankenhäuser, Gesundheitszentren und Sozialvereine.

Es gelingt diesem jungen Team, Menschen, die von Armut und Vereinsamung betroffen sind, mit lokalen Behörden  sowie Organisationen und Unternehmen zusammenzubringen. Ihr Ziel ist es, dass «niemand zurückgelassen» wird. Sie führen Hausbesuche durch. Während dieser Besuche werden die Bedürfnisse der oft älteren, kranken oder behinderten Menschen und ihres Umfelds sowie die Sicherheit der häuslichen Umgebung detailliert erfasst, z.B. auch der Grad der emotionalen und geistigen Erschöpfung. Gerade Menschen, die in verlassenen Regionen leben, sind oft von einer Versorgung abgeschnitten. Danach wird je nach Bedürfnis zusammen mit dem Umfeld eine personalisierte Unterstützungsmethode entwickelt.

Während wir uns im Büro mit Maria und einem Teil ihrer Mitarbeitenden unterhielten, kam eine ältere Griechin ins Büro. Nachdem sie wieder gegangen war, erzählte man uns ihre Geschichte. Nach dem Tod ihres Sohnes hatte sie allen Lebenswillen verloren. Man konnte sie dann im Verlaufe des Gesprächs für ein Frauen-Nähprojekt verpflichten und ihr eine Nähmaschine anvertrauen. Dank dieser neuen Aufgabe hat sie wieder etwas Mut und Vertrauen gefasst. Es sind oft diese «Geschichten», die im Kleinen Grosses bewegen und an denen wir uns halten.

Wir sind glücklich, eine Gruppe von so engagierten Menschen zu treffen, und einigen uns im Verlauf des Gesprächs darauf, dass Network Anthropia die lagerfähigen Lebensmittel in Zukunft von Marias Team beziehen wird und wir sie im Gegenzug mit Warenlieferungen unterstützen. Denn Network Anthropia besitzt etwas, was viele andere Organisationen nicht haben: einen Kleinbus und z.B. den Zugang zu medizinischen Hilfsgütern aus der Schweiz.

 

Die Insel. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas

Franziska Grillmeier

Für ihre Recherchen zog die Journalistin Franziska Grillmeier auf die griechische Insel Lesbos. In ihrem Buch erfährt man von den katastrophalen Zuständen auf Lesbos und der Brutalität der Massnahmen, mit denen Menschen an der Einreise in europäische Länder gehindert werden sollen, aber auch von der Rolle der Medien oder Ereignissen wie ein plötzlicher Wetterumsturz, der die Zelte der Bewohner unter Wasser setzt und die hygienischen Bedingungen weiter verschlechtert. Dabei wird «Die Insel» zum Synonym für die Abschottung Europas, denn Grillmeier besucht auch andere Grenzregionen Europas.

Nicht für alle sind die Inhalte in diesem Buch neu. Trotzdem ist es auch für diese Menschen höchst interessant, denn Grillmeier fasst zusammen und schildert pointiert, wie sich die Situation in Griechenland, bzw. der EU in den letzten Jahren entwickelt hat. Sie zeigt das nicht zuletzt auch an der Situation von Lesbos auf. Und sie lässt immer wieder Geflüchtete zu Wort kommen und zeigt deren Weg durch die Institutionen und Länder auf. Sie beschreibt zudem die zunehmende Kriminalisierung der Helfer*innen und – noch schlimmer – die der Geflüchteten. Grillmeier schreibt eindringlich und berührend und behält trotzdem immer die Fakten im Auge.

 

 

Network Anthropia

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Es braucht nicht viel für einen gemütlichen Nachmittag im Community Center.
Network Anthropia versorgt jene Menschen, die durch die Lücken des Systems fallen oder sich nicht (mehr) selbst versorgen können.
Network Anthropia auf Versorgungstour.