Nüchterne Bedrohungsanalyse
Andreas Weibel, GSoA-Vorstand
Die Schweizer Sicherheitspolitik hat jedes Augenmass verloren. Eine nüchterne und sachliche Bedrohungsanalyse stellt den grassierenden Aufrüstungswahn in Frage.
Gemäss den aktuellen armee- und sicherheitspolitischen Berichten des Bundes ist ein bewaffneter Angriff auf die Schweiz äusserst unwahrscheinlich. Diese Formulierung wurde nach dem Angriff auf die Ukraine sogar noch deutlicher gewählt als zuvor. Für die Schweiz war der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine keine Zeitenwende der realen militärischen Bedrohung. Aber es war dennoch eine sicherheitspolitische Zeitenwende: Die Bürgerlichen haben seither alle Hemmungen und jedes Mass verloren in ihren Forderungen nach Aufrüstung. Dieser Ausgabenwut ordnen sie alles unter: Altersvorsorge, Klimaschutz, Bildung. Die bürgerliche Hegemonie schadet aber auch der Sicherheit der Schweiz, weil sie die Sicht auf die realen Bedrohungen vernebelt.
Grösstes Risiko ist die Klimakrise
Die Schweiz muss deshalb eine nüchterne Bedrohungsanalyse vornehmen, die nicht auf einem subjektiven Gefühl der Gefährdung basiert, sondern auf dem Boden der Realität. Wir müssen unseren Fokus auf die Risiken legen, deren Eintretenswahrscheinlichkeit und deren Schadenspotenzial am grössten sind, und in Mittel investieren, welche dagegen tatsächlich etwas nützen.
Die Klimakrise muss endlich als Gefahr für die nationale Sicherheit anerkannt werden. Kaum eine andere Bedrohung hat für die Menschheit ein derart hohes Schadenspotenzial wie der durch unsere Emissionen verursachte Temperaturanstieg. Die Wahrscheinlichkeit und das Ausmass immenser Schäden steigen mit jedem Jahr der Untätigkeit. Obwohl die Schweiz gemäss den Klimamodellen besonders betroffen sein wird, sind die Investitionen unseres Landes in Entkarbonisierung weiterhin nicht einmal im Ansatz angemessen.
Es braucht massive Investitionen in die Katastrophenhilfe. Die Schweiz ist derzeit auf diverse reale Gefahren nur unzureichend vorbereitet. Das Schweizer Gesundheitswesen wäre im Moment bereits bei einem Ereignis mit mehr als 25 Schwerverletzten überfordert. Gemäss dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz wäre jedoch jederzeit ein Erdbeben möglich, bei dem 10000 Verletzte zu versorgen wären.
Realistische Militärdoktrin
Es braucht eine Militärdoktrin, welche die geographische Lage der Schweiz einbezieht. Die Schweiz liegt nicht im Baltikum, sondern sie ist von einem dichten Ring von NATO-Staaten umgeben. Selbst falls die USA nicht mitgezählt werden, haben die NATO-Staaten in den vergangenen Jahren ein Mehrfaches in ihr Militär investiert als Russland. Putins Armee hat aus militärischen, wirtschaftlichen, aber auch demographischen Gründen keine Chance, die NATO ernsthaft mit konventionellen Mitteln herauszufordern.
Es gibt kein realistisches Szenario, in dem Putins Truppen plötzlich auf der anderen Seite des Bodensees stehen. Das ist auch die Meinung des angesehenen Militärwissenschaftlers Mauro Mantovani, Dozent an der ETH-Militärakademie: «Bildlich gesprochen halte ich das Risiko, dass die Russen jemals am Bodensee oder am Rhein aufmarschieren werden, für unwahrscheinlicher denn je.» (NZZ am Sonntag, 6.3.2022). Das Parlament muss einen Marschhalt bei den Armeeausgaben einlegen. Die Armeebotschaft 2024 mitsamt allen fünf Beschlüssen, insbesondere dem Rüstungsprogramm 2024, sind abzulehnen.
Echte Solidarität mit Europa
Die Sicherheitspolitiker:innen müssen akzeptieren, dass die Schweiz ein neutrales Land ist. Mehr als 90 Prozent der Schweizer Bevölkerung will an der Neutralität festhalten, die Neutralität ist in der Bundesverfassung festgehalten. Die Schweiz hat nicht nur keine Beistandsverpflichtung. Im Gegenteil: Ihr ist es verboten, militärischen Beistand zu leisten. An dieser Tatsache muss sich endlich auch die Schweizer Rüstungsplanung orientieren.
Wir wollen eine echte Solidarität mit unseren europäischen Nachbarn. Es nützt niemandem etwas, wenn zusätzliche Kampfjets und Panzer durch die Schweizer Alpen kurven. Auch als neutrales Land hat die Schweiz zahlreiche Möglichkeiten, um zu einer stabilen Sicherheitsarchitektur in Europa und weltweit beizutragen. Dazu gehört unter anderem die humanitäre Hilfe für die Ukraine – beispielsweise im Energiesektor – sowie die Durchsetzung der Sanktionen gegen Russland.
Die Schweiz muss aufarbeiten, wie wir zur Aufrüstung Russlands beigetragen haben. Unabhängig der politischen Einstellung sollte es Konsens sein, dass es ein strategischer Fehler ist, militärische Aggressoren aufzurüsten. Um aus der Vergangenheit zu lernen, braucht es eine öffentliche Aufarbeitung der Zusammenarbeit der Schweiz mit der russischen Rüstungsindustrie.
Der Bundesrat muss endlich echte Kostentransparenz schaffen. Die geplanten Ausgaben für Rüstungsbeschaffungen werden Unterhalts- und Betriebskosten und später Entsorgungskosten in Milliardenhöhe verursachen.
Die bürgerliche Unehrlichkeit muss enden. Die Armee wurde nicht «kaputtgespart». Im Gegenteil, die Schweizer Militärausgaben steigen bereits seit zwei Jahrzehnten deutlich. Fakt ist: Kaum ein Land in Europa gibt pro Kopf so viel Geld für die Armee aus wie die Schweiz.
Schliesslich hat die Politik die Bevölkerung einzubeziehen. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung hat kaum eine Stimme in der Politik, auch weil gegen die Budgeterhöhungen kein Referendum ergriffen werden kann. Das könnte das Parlament ändern mit einer referendumsfähigen Vorlage.
Grosse Mehrheit gegen Aufrüstung
Jo Lang
Alle Umfragen der letzten Monate bestätigen das Resultat der wichtigsten Untersuchung mit dem Namen «Sicherheit 2024». Die jährlich von der Militärakademie (MILAK) und dem Center for Security Studies durchgeführte Untersuchung ergab im Frühjahr folgendes Ergebnis: 45 Prozent der 1223 Befragten antworteten, dass die Militärausgaben der Schweiz «gerade richtig» seien, 30 Prozent fanden, sie seien zu hoch, und nur 20 Prozent sagten: «Die Schweiz gibt zu wenig Geld für die Armee aus.»
Eine im Frühsommer von der in Berlin ansässigen Denkfabrik «Council on Foreign Relations» in 15 Ländern durchgeführte Umfrage ergab, dass in der Schweiz nur 23 Prozent für ein «Aufstocken des Rüstungsbudgets» sind. Mitte März ergab eine Umfrage der «NZZ am Sonntag» über die Finanzierung der 13. AHV-Rente, dass an zweiter Stelle «Erhöhungen der Bundesbeiträge durch Einsparungen beim Militär» standen. An erster Stelle stand die Steuer für eine Finanztransaktion. Die Verwirklichung der beiden populärsten Ideen könnte den Bundeshaushalt aus der Bredouille befreien.
Solche Umfrageergebnisse bestätigen die Antworten, die die Befragten in der MILAK-Untersuchung gaben auf die Frage: «Ganz allgemein gefragt, wie sicher fühlen Sie sich in unserer heutigen Zeit?» 29 Prozent antworteten «sehr sicher», 63 Prozent «sicher», 7 Prozent «unsicher», 1 Prozent «sehr unsicher». Die Leute wissen oder ahnen: Der Kriegsherr Putin, der nur schon Mühe hat, sein eigenes Territorium zu verteidigen, ist keine militärische Gefahr für die Schweiz. Gegen die einzige Gefahr, die atomare, gibt es nur eine Antwort: UNO-Vertrag für ein Atomwaffenverbot.
Unter der deutlichen Mehrheit der Schweizer:innen, die Mehrausgaben für die Armee ablehnen, hat es viele, die sich bewusst sind, dass die Schweiz heute schon zu den Spitzenländern in Sachen Militärbudget gehört. Geht man von den reinen Militärausgaben aus, steht sie pro Kopf der Bevölkerung mit den gut sechs Milliarden an elfter Stelle von 46 europäischen Ländern. Aber in dieser Rechnung sind die typischen Zusatzkosten einer Wehrpflicht-Armee nicht eingerechnet: Die Opportunitätskosten wegen des Ausfalls am Arbeitsplatz. Diese betragen 5,1 Millionen Diensttage mal 8 Stunden mal 85 Franken Produktivitätsverlust pro Stunde, also 3,5 Milliarden Franken. Würden auch diese Kosten berücksichtigt, wäre die Schweiz in der europäischen Statistik der Militärausgaben auf Rang 2.