Patient Biodiversität
André Guntern, Präsident Pro Natura Zug
Die Biodiversitätskrise lässt sich wie der Klimawandel wissenschaftlich belegen. Leider konnten die bisherigen Massnahmen den Artenschwund nicht stoppen. Mit der Abstimmung über die Biodiversitätsinitiative am 22. September 2024 besteht immerhin die Chance, Verbesserungen zu erreichen.
Die Biodiversität ist in aller Munde: Gemeinden, Kantone, aber auch Grossverteiler und Tourismusorte rühmen sich, mit verschiedenen Massnahmen die Biodiversität zu fördern. Es werden Hecken gepflanzt, Magerrasenstreifen angelegt, Stein- und Asthaufen aufgeschichtet und Wildbienenhotels gebastelt. Der Einsatz ist zwar löblich, aber bringt das der Natur auch etwas und reicht es aus? Denn alle wissenschaftlichen Studien kommen zum gleichen Ergebnis: Der Artenschwund hält seit Jahrzehnten an, und eine Trendumkehr ist trotz aller bisheriger Anstrengungen nicht in Sicht.
Was versteht man eigentlich unter dem «Modewort Biodiversität», wie es SVP-Nationalrat Thomas de Courten (BL) despektierlich bezeichnete? Biodiversität steht für die «Vielfalt des Lebens». Und diese Vielfalt findet auf drei Ebenen statt:
- Die Artenvielfalt steht allein in der Schweiz für rund 30000 Tier- und 19000 Pflanzenarten.
- Die Vielfalt der Lebensräume ergibt sich aus den unterschiedlichsten Standortbedingungen bezüglich Boden, Wasser, Temperatur und Struktur. Ein bestimmter Lebensraum lässt eine bestimmte Pflanzengesellschaft entstehen, und diese wiederum beherbergt bestimmte Tierarten. Das Ganze bildet ein Ökosystem.
- Die Vielfalt innerhalb einer bestimmten Art bezeichnet man als genetische Vielfalt.
Gefährlicher Dominoeffekt
Die drei Ebenen der Biodiversität bilden eine Art «Netz des Lebens», welches eng verwoben ist und alles zusammenhält. Gehen Arten stark zurück oder verschwinden sie ganz, wird dieses Netz instabil. Dies ist oft nicht direkt und schnell sicht- oder spürbar. Es beginnt ein Prozess, der sich eines Tages nicht mehr stoppen lässt. So entsteht ein gefährlicher Dominoeffekt: Insektenarten sterben aus, weshalb gewisse Pflanzen nicht mehr bestäubt werden. Diese fehlen wiederum als Nahrung für weitere Tiere. Am Ende der Kette ist schliesslich der Mensch von dieser Entwicklung betroffen.
Gefährdet und ausgestorben
Aber wie schlimm steht es denn um die Biodiversität in der Schweiz? Dazu folgende zusammenfassende Feststellungen:
– Ein Drittel der Tier- und Pflanzenarten in der Schweiz gilt als gefährdet oder ist bereits ausgestorben, bei den Insekten sind es sogar die Hälfte. Es mangelt den Insekten an geeigneten Lebensräumen. Diese sind mit der Intensivierung der Landwirtschaft sowie dem Bau von Siedlungen und Infrastrukturen verschwunden. Hinzu kommen die Überdüngung und der Einsatz von Pestiziden. Auch der Klimawandel, invasive Arten und die Lichtverschmutzung machen vielen Insekten zu schaffen.
– Die artenreichen Lebensräume wie etwa Moore, Auen, Trockenwiesen und -weiden sowie Feldgehölze, Randstreifen und Strukturelemente sind seit 1900 um rund 90 Prozent oder 7600 qkm zurückgegangen. Das ist fast ein Fünftel der gesamten Landesfläche. Der Lebensraum für die einheimischen Tier- und Pflanzenarten geht nicht nur flächenmässig verloren, auch die Qualität und die wichtige Vernetzung in der Landschaft durch Hecken oder naturnahe, bestockte Bäche nimmt stetig ab.
– Die genetische Vielfalt nimmt ebenfalls ab. Bei kleinen Populationen fehlt der genetische Austausch, es kommt zu Inzuchtschäden. Ist die genetische Vielfalt zu klein, können sich Arten nicht mehr veränderten Umweltbedingungen anpassen, vor allem, wenn diese so schnell wie bei der Klimaerwärmung vor sich gehen.
Lösungsansätze
Es gibt eine Fülle bekannter und bewährter Instrumente und Massnahmen, mit denen wir gegen den weiteren Biodiversitätsverlust etwas unternehmen können. Zum Beispiel begradigte Bäche und Flüsse renaturieren, Moore wieder vernässen und Auen überfluten, Wälder struktur- und baumartenreicher pflegen sowie die Umgebungsflächen von Gebäuden und Restflächen an Strassen und Plätzen naturnah gestalten und bepflanzen. Alle diese Massnahmen benötigen Raum und Geld. Der Erhalt und die Förderung der Biodiversität ist also nicht gratis zu haben. Doch bisher wurde zur notwendigen Förderung der Biodiversität nicht genügend Raum zur Verfügung gestellt und zu wenig Geld investiert. Und genau hier setzt die Biodiversitätsinitiative an. Sie verlangt, dass genügend Raum für Biodiversitätsmassnahmen gesichert wird und dass dafür die nötigen finanziellen Mittel eingesetzt werden. Die Biodiversitätsinitiative setzt mit dem neuen Art. 78a in der Bundesverfassung aber nur den groben Rahmen. Der politische Spielraum für Bund, Kantone und Gemeinden bleibt gewahrt. Er ermöglicht regional angepasste, massgeschneiderte Lösungen. Dabei nimmt die Initiative alle Beteiligten und Sektoren in die Pflicht. Die Sicherung der Biodiversität ist eine Gemeinschaftsaufgabe für uns alle.
Schädliche Subventionen
Leider wird immer noch ein Vielfaches mehr Geld für Subventionen, die der Biodiversität schaden, ausgegeben als für Massnahmen, mit denen der Rückgang der Biodiversität gebremst werden soll. Dies hat eine Studie der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) gezeigt. Es wurden 162 Subventionen von Bund und Kantonen identifiziert, die mehr oder weniger schädliche Wirkungen auf die Biodiversität haben. Es sind etwa Beiträge an den Strassenbau, für die Milch- und Fleischproduktion, an Kleinwasserkraftwerke, an den Hochwasserschutz oder an Tourismusprojekte. Gerade in der Landwirtschaft ist die Diskrepanz zwischen einer biodiversitätsfreundlichen Bewirtschaftung und dem aktuellen Stand besonders gross. Die dringend notwendige Korrektur der Agrarpolitik zugunsten der Biodiversität wird in der Schweiz auf die lange Bank geschoben – auf Kosten der natürlichen Vielfalt. Zu viel Dünger und Pestizide beeinträchtigen die Ökosystemleistungen und damit unsere Lebensgrundlagen. Massnahmen zu deren Reduktion werden durch die auf allen Ebenen starke Landwirtschaftslobby verhindert, reduziert oder bei der Umsetzung marginalisiert. Auch gegen die Biodiversitätsinitiative wird der mächtige Bauernverband an vorderster Front antreten, um die Initiative zu bodigen. Im Parlament hatte er mitgeholfen, einen Gegenvorschlag zu verhindern. Der Bauernverband argumentiert, die gesetzlichen Grundlagen zur Förderung der Artenvielfalt genügten und die Landwirtschaft mache bereits viel dafür. Noch mehr Landwirtschaftsfläche zur Förderung der Biodiversität einzusetzen, kommt aus seiner Sicht nicht in Frage. Dies führe zu mehr Importen aus dem Ausland und verteure die Lebensmittel generell.
Natur schafft Emotionen
Der Beschwichtigungs- und Angstkampagne der Gegner wollen die Umweltorganisationen und die sie unterstützenden Verbände und Parteien mit einer positiven Botschaft Paroli bieten. Denn mit unserer intakten Natur verbinden wir viele positive Emotionen und Erlebnisse, sei es das Vogelgezwitscher im Wald, die Blumenpracht auf den Bergwiesen oder bei Wildbeobachtungen in den Bergen. Es gilt, diese Vielfalt des Lebens und damit unsere Lebensgrundlagen zu erhalten. Oder dort, wo die Vielfalt durch intensive Landnutzung oder Siedlungen ohne Grünraum verschwunden ist, die Voraussetzungen für Verbesserungen zu schaffen.

