Soziale Verdrängung in Zug
Josef Lang
Für eine Masterarbeit der Uni Basel über die Geschichte der Zuger Steuerpolitik gab Josef Lang deren Autor, Bruno Hermann Hunn, dieses hier leicht gekürzte Interview.
Hunn: Zu Ihren Leitzielen gehört die Steuergerechtigkeit. Wie verstehen Sie diese?
Lang: Die Frage der Steuergerechtigkeit stellt sich auf kantonaler, nationaler und internationaler Ebene. Im Kanton Zug zahlen alle natürlichen und juristischen Personen tiefe Gemeinde- und Kantonssteuern. Allerdings sind die Spitzeneinkommen und vor allem die Spitzenvermögen gegenüber allen anderen stark privilegiert. Und die tiefen und mittleren Einkommen, die grossmehrheitlich Mieterinnen und Mieter sind, leiden unter den Folgen der Tiefststeuerpolitik: Wohnungsnot und hohe Wohnkosten. Die Folge ist ein massiver sozialer Verdrängungsprozess. Zudem leiden viele industrielle und gewerbliche Betriebe, die mehr Platz brauchen als Handelsfirmen, unter den hohen Boden- und Pachtpreisen.
Gut gelöst ist im Kanton Zug seit der grossen Steuergesetzrevision von 1946 der starke Ausgleich unter den Gemeinden. Wie vorteilhaft das ist, zeigt ein Vergleich mit dem Kanton Schwyz, der viel gespaltener ist. Der «direkte Finanzausgleich», wie er in Zug heisst, führt heute dazu, dass fünf Gebergemeinden sechs Nehmergemeinden unterstützen. Interessant ist, dass die Begrifflichkeit von «Gebern» und «Nehmern» politisch und medial kaum eine Rolle spielt.
Was die nationale Ebene betrifft, ist ein Steuergefälle von 3:1 unter den Kantonen einer Republik schlicht und einfach unwürdig. Eine gerechte Lösung wäre ein Bandbreitenmodell von sagen wir 80 zu 120 oder 75 zu 125. Beide Gefälle wären übrigens immer noch höher als das unter den Zuger Gemeinden. Die verheerendsten Auswirkungen hat die Steuerungerechtigkeit auf globaler Ebene. Es ist höchst ungerecht, wenn Multis im Kanton Zug, wo sie nur wenige Kosten verursachen, einen Bruchteil jener Steuern bezahlen, die sie eigentlich an den Orten bezahlen müssten, wo die Werte real geschöpft werden und wo sie Kosten verursachen.
Hunn: Sie haben den Begriff «sozialer Verdrängungsprozess» gebracht. Was meinen Sie damit?
Lang: Seit den 1980er-Jahren gibt es ein Phänomen, das auch statistisch auffällt: Ein Grossteil der Zugerinnen und Zuger, die den Kanton verlassen, bleiben geographisch in dessen Nähe. Vor allem junge Familien ziehen nach dem ersten oder zweiten Kind ins Zürcher Knonaueramt, ins aargauische Freiamt, in die Nachbargemeinden der Kantone Luzern und Schwyz. Politisch hören sie auf, Zugerinnen und Zuger zu sein, aber nicht beruflich oder gesellschaftlich. Eine andere Gruppe, die den Kanton als Wohnort, aber nicht als Arbeitsort verlässt, sind Angehörige des Mittelstandes, zu deren Status es gehört, sich mit der Zeit Wohneigentum zu erwerben. Als Polizeidirektor sah sich Hanspeter Uster veranlasst, die kantonale Wohnsitzpflicht von Polizistinnen und Polizisten aufheben zu lassen, weil sie sich im Kanton keine eigene Wohnung leisten konnten.
2007 hatte die Regierung sogar die Idee, in den Nachbarkantonen günstigen Wohnraum für Zugerinnen und Zuger zu beschaffen. Der bürgerliche Präsident der Wohnbaugenossenschaft Familia brachte es damals auf den Punkt: Damit würden Menschen mit geringerem Einkommen «ausgegrenzt». Ausgegrenzt im wahrsten Sinn des Wortes. Bloss: Diese Ausgrenzung aus dem Kanton Zug, die ich soziale Verdrängung nenne, findet trotzdem statt. Das gleichzeitige Bevölkerungswachstum bedeutet nichts anderes als Gentrifizierung*.
* Gentrifizierung: Umstrukturierungsprozess in einem Wohngebiet, bei dem die bisherige Bewohnerschaft durch wohlhabendere BewohnerInnen verdrängt wird.
Hunn: Ein weiteres Problem, das Zug hat, ist dessen teils angeschlagener Ruf. Was halten Sie davon?
Lang: Der Zuger Standort hat den Ruf, den er weitgehend, aber nicht gänzlich verdient. So produziert der Werkplatz auffällig viele Güter, die für die globale Energiewende nützlich und nötig sind. Aber dass Zug zu einer Hochburg des ökonomischen Putinismus wurde, bestätigt all die Kritiken, die seit Jahrzehnten geäussert wurden, beispielsweise in Zusammenhang mit der Unterstützung des Apartheidregimes. Die russische Präsenz, insbesondere von staatsnahen Konzernen wie Nord Stream, die im Westen höchstens in der Londoner City ähnlich dicht ist, zeigt, dass der Zuger Standort ein gravierendes politisches und ethisches Problem hat. Dazu kommt, dass von Russland unabhängige Firmen wie die Glencore mitgeholfen haben, Putins Staats- und Kriegskasse zu füllen. Verschlimmert wird all das durch eine Haltung der Zuger Regierung, die in der Sanktionenfrage bestenfalls Dienst nach Vorschrift macht.
Das Gewicht des ökonomischen Putinismus in Zug fordert auch die Politik heraus, die beiden Grundlagen des Verhängnisses zu hinterfragen: Tiefststeuerpolitik und Willfährigkeit gegenüber Oligarchen wie Vekselberg oder Firmen wie die Eurochem, der ein Kredit organisiert wurde. Vergessen wir nicht: Die Präsenz putinnaher Gesellschaften wie die Nord Stream war alles andere als diskret. Der wichtigste Sportverein des Kantons, der EVZ, trug auf den Trikots den Namen «Nord Stream».
Hunn: Aber immerhin wurde ein Thema, das vor Jahrzehnten viel mehr zu reden gab, zwischenzeitlich entschärft: die personelle Verflechtung von Ämtern und Verwaltungsräten.
Lang: Tatsächlich war die Verfilzung früher viel stärker und hat deshalb viel mehr Staub aufgewirbelt. Beispielsweise liess der freisinnige Finanzdirektor Hans Straub, der gleichzeitig und am gleichen Ort seine private Anwaltskanzlei betrieb, ausländischen Steuerflüchtlingen nicht nur das Zuger Steuersystem erklären. Sein Sekretär erzählte mir mal, dass er häufig nach gelungener Akquirierung eines Klienten für den Kanton diesen für die Kanzlei zu gewinnen vermochte. Noch mehr zu reden gaben die über 100 Verwaltungsratsmandate des christdemokratischen Volkswirtschaftsdirektors Antonio Planzer. Nachdem 1977 Enthüllungen, die wir gemacht hatten, von den Medien unterschlagen worden waren, reichten wir eine Volksinitiative ein, welche den fraglichen Filz thematisierte. Deren Titel lautete: «Gegen den politischen Einfluss von Verwaltungsräten». Obwohl das Volksbegehren von einer Partei mit dem Namen «Revolutionäre Marxistische Liga» getragen wurde, schaffte es über 37 Prozent der Stimmen. In den 1980er-Jahren wurde alles noch brisanter, vor allem weil der einzige Staatsanwalt gleichzeitig Verwaltungsrat der Marc Rich + Co. war. Als Sozialistisch-Grüne Alternative lancierten wir gemeinsam mit der SP eine Volksinitiative für ein Vollamt von Exekutive und Staatsanwaltschaft. Sie wurde zwar ganz knapp abgelehnt, aber sie bewirkte ein Hauptamt, das der Initiative sehr nahekam. Seit 2014 gilt, was wir 1988 verlangten: ein Vollamt!
So haben die Erfolge der Linken zur Beruhigung der Lage beigetragen. Dass Sonderinteressen steuerpolitisch weiterhin eine wichtige Rolle spielen, erlebte ich im Jahre 2000 als Mitglied der Kantonsratskommission zur Totalrevision der Steuergesetzgebung. Wirtschaftsanwälte und Steuerberater stellten die Mehrheit deren Mitglieder. Und sie pflegten bei konkreten Punkten derart konkrete Fragen und Anträge zu stellen, dass klar war, dass sie eine ganz bestimmte Klientel oder eine ganz bestimmte Firma im Hinterkopf hatten.
Hunn: Wenden wir uns nun der Geschichte des Zuger Wirtschaftsstandortes und der Steuerpolitik zu. Welche Rolle spielte die Nähe zu Zürich?
Lang: Dass Zug der erste katholische Kanton war, der sich im 19. Jahrhundert industrialisierte, hatte entscheidend, aber nicht ausschliesslich mit der Nähe zum protestantischen Zürich zu tun. Eine eigenständige Errungenschaft war die im Vergleich zu anderen katholischen Gebieten bessere Volksbildung. Aber das Gros des Kapitals, mit dem Zug industrialisiert wurde, stammte aus zürcherisch-protestantischen Quellen.
Auch bei der Entwicklung der Zuger Steuerspezialitäten in den 1920er-Jahren kam der entscheidende Anstoss aus Zürich. Beim Hauptinitianten, dem Zürcher Wirtschaftsanwalt Eugen Keller-Huguenin, ist zu bedenken, dass er Zug nicht nur auswählte, weil er ein Kleinkanton in der Nähe von Zürich war. Er hielt ihn wegen der Schwäche der Linken auch für besonders geeignet für eine politische und gesellschaftliche Alternative zum drohenden «Roten Zürich». Der mit dem Grosskapital eng verbundene Rechtsbürgerliche war nicht nur gegen den politischen Einfluss der Arbeiterschaft, sondern auch des Mittelstandes. Er war überzeugt, dass nur die «Bourgeoisie», wie er den Geldadel nannte, den Staat führen könne. Die Entwicklung, in der sich der Kanton Zug ein Jahrhundert nach der Intervention Keller-Huguenins befindet, zeigt, dass seine elitär-monetäre Vision gar nicht so unrealistisch war.
Allerdings gilt auch hier: Ohne die doppelte Anbindung an Zürich und dessen Flughafen über die Gotthard- und die Genf-Luzern-Bahnlinien wäre das spektakuläre Wachstum seit den 1960er-Jahren gar nicht möglich gewesen. Solange Zürich wegen der Krise der 1930er-Jahre und des Krieges nicht boomte, drehten die zugerischen Holding- und Domizilprivilegien im Leeren. Allerdings wurde aus dem Trittbrettfahrer ab den 1970er-Jahren ein gegenüber Zürich relativ eigenständiges «Erfolgsmodell Zug», um Gerhard Pfister zu zitieren.
Hunn: Ihre zeitliche Einordnung wirft die Frage der gemischten Gesellschaften auf. Diese waren ja nichtblosse Domizilgesellschaften.
Lang: Tatsächlich ist die Bedeutung der gemischten Gesellschaften weitaus wichtiger als die der Briefkastenfirmen und der Holdings. Ohne diese Ausweitung des Domizilprivilegs Ende der 1950er-Jahre wäre es später nicht zum Rohstoffhandelsboom gekommen. Eine typische Rohstoffhandelsfirma hat im Unterschied zu einer Briefkastenfirma eine Geschäftstätigkeit im Inland, aber diese beträgt weniger als 20 Prozent der gesamten Geschäftstätigkeit. Aus meiner Sicht erheischte die Einführung der diesbezüglichen Verwaltungspraxis eine gesetzliche Grundlage. Weil es die nicht gab, war die Verwaltungspraxis illegal. Pointiert ausgedrückt: Der Hauptfaktor für das Erfolgsmodell Zug baute auf einer Gesetzlosigkeit im präzisen Sinne des Wortes; es fehlte für die längste Zeit der Existenz von gemischten Gesellschaften die gesetzliche Grundlage.
Hunn: Umso erstaunlicher ist die Stabilität des Zuger Steuersystems. Michael van Orsouw erklärt diese damit, dass auch die tiefen Einkommen stark entlastet wurden.
Lang: Diese These stimmt für die Stadt Zug bis in die 1980er-, für den Rest des Kantons bis in die 1990er-Jahre. Ab dem Moment, wo die Wohnpreise zur weitaus wichtigsten Sozialfrage wurden, stimmt die These so nicht mehr. Aber weil die Folge der steigenden Wohnpreise die soziale Verdrängung aus dem Kanton war, hatte sie keine spektakulären politischen Folgen. All die Bürgerinnen und Bürger, die ausserhalb des Kantons mit dem Kanton verbunden blieben und bleiben, hatten und haben im Kanton kein Stimm- und Wahlrecht. Aus diesem Grund finde ich die soziale Verdrängung von Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen zugunsten von Reichen und juristischen Personen auch ein demokratiepolitisches Problem. Dass dieses den bürgerlichen Parteien so wenig Sorgen bereitet, ist elektoral nachvollziehbar.
Hunn: Wie sehen Sie die Folgen der OECD-Reform?
Lang: Der groteske Vorschlag des Finanzdirektors, einen Teil der zusätzlichen Steuereinnahmen den Rohstoffkonzernen zurückzuerstatten, hat einen Vorteil: Er zeigt auf, dass Zug vor einer Wegscheide steht. Wenn weiterhin das Ziel verfolgt wird, möglichst viele Reiche und Konzerne anzuziehen, erstickt Zug im Geld. Der Überfluss an Geld und an kaufkräftiger Nachfrage verteuert das Leben, insbesondere die Immobilien, derart massiv, dass Zug zu einem Monaco wird. Oder die Wachstumspolitik wird gebremst, indem die Steuererhöhungen als Chance für mehr Gerechtigkeit gepackt werden. Im Innern vorzüglich für den sozialen Wohnbau, gegenüber der Welt im Sinne der Konzernverantwortung.
Zuger Steuerpolitik
Bruno Hermann Hunn: «Wir werden immer die bad guys sein.» Die Zuger Steuerpolitik von 1973 bis 1985 mit Fokus auf das Holding- und Domizilprivileg. Masterarbeit Uni Basel 2023. Der Titel ist ein Zitat aus einer Rede von Gerhard Pfister vor dem Lions Club Zug vom 23.10.2013. Neben Josef Lang wurden auch der aktuelle Finanzdirektor Heinz Tännler und der ehemalige Finanzdirektor Urs Kohler interviewt.